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Serie – Teil 3: Meine Geschichte des Jahres: Eine trauernde Mutter in Bramsche


Der stern hat in diesem Jahr viele Recherchen veröffentlicht, die erstaunen, schockieren, enthüllen. In dieser Serie empfehlen Redakteure ihre Lieblingstexte aus 2024.

Berichte über Verbrechen stoßen auf Vorbehalte. Gelegentlich wird ihnen vorgeworfen, Voyeurismus zu betreiben, Schicksale auszuschlachten, Grenzen zu überschreiten. Das Leid zu instrumentalisieren für eine gute Geschichte.

Der stern hat den Anspruch, es anders zu machen. Das haben viele Geschichten im Jahr 2024 gezeigt, eine ist mir besonders in Erinnerung geblieben: “Ohne ihn”, erschienen Anfang Oktober.

stern-Reporter Nico Schnurr erzählt darin die Geschichte von Sanella Fatkic, deren 16-jähriger Sohn Sinan im Februar 2023 in Bramsche erschossen wurde, von einem 80-jährigen Nachbarn vor der eigenen Haustür. Der Mörder war psychisch erkrankt, als Sportschütze war er dennoch im Besitz einer Waffe. Eine buchstäblich unfassbare Tat. 

Die Mutter bleibt in Bramsche, wo sie ihren Sohn sterben sah

Wie aber fasst man in Worte, was wohl nie ganz zu fassen ist? Vielleicht so wie Schnurr in seinem Text, den ich hier empfehlen möchte. 

Wenn er von den Kinderbüchern erzählt, die Sanella Fatkic mit ihrem Sohn gelesen hat, von den leinwandgroßen Fotos von ihm, die sie an fast allen Wänden aufgehängt hat, von seinen Sitcoms auf Disney+, die sie in seinem Zimmer laufen lässt, als Hintergrundrauschen ihres Alltags in der leeren Wohnung – dann umkreist er den Schmerz, bis er zumindest zu ahnen ist. 

Zu ahnen ist auch die Wut, die in Sanella Fatkic brennt. Über den Prozess, der ihr nicht die Antworten gab, auf die sie gehofft hatte. Und über die Nachbarn, die nach den Schüssen ans Fenster traten, ohne den Notruf zu wählen, und sich vor Gericht nicht durchringen konnten, die Tat unmissverständlich zu verurteilen. Einer von ihnen hält noch immer Kontakt zu Sinans Mörder.

Zu ahnen ist schließlich auch die Kraft, mit der Sanella Fatkic ihr Schicksal meistert: Nach der Tat entschied sie trotz allem, an dem Ort wohnen zu bleiben, an dem sie Sinan sterben sah. 

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Die Tat ging seinerzeit bundesweit durch alle Medien, auch über den Prozess wurde im ganzen Land berichtet. Nico Schnurr aber hielt den Kontakt zur Mutter auch nach dem Urteil – und begleitete sie auf dem Weg in ihr neues Leben ohne ihren Sohn. Über Monate fuhr er immer wieder nach Bramsche zu Sanella Fatkic. Befragte sie, beobachtete sie. Versuchte zu verstehen. 

Nur so konnte er schreiben, was er geschrieben hat. Einen Text, dem man die genaue Beobachtung anliest, die richtigen Fragen, vor allem aber Geduld und Einfühlungsvermögen. Einer, der uneitel und tastend bleibt und der auch dort, wo er Deutungen wagt, nicht auf Behauptung basiert, sondern auf Recherche. Einen Text auch, der sich nicht damit begnügt, die Trauer auszumalen, sondern ebenso versucht, die Bewältigung zu erzählen – oder den Versuch der Bewältigung. 

Am Ende steht ein Text, der trotz des Todes voller Leben ist. Instrumentalisiert er das Leid für eine gute Geschichte? Sicher nicht. Er erzählt eine Geschichte, die das Leid greifbar macht. Zumindest ein bisschen. Deshalb ist er gut. 

Und wichtig. 

Die bisherigen Folgen der Serie:

Geschichte des Jahres “Ein krankes Haus”

Texte des Jahres




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Author : Félice Gritti

Publish date : 2024-12-28 17:12:00

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