Armut trifft vor allem Kinder und Jugendliche. Der Monitor “Jugendarmut” zeigt auf, was das für die Betroffenen bedeutet – und welche dramatischen Folgen das für uns alle hat.
Deutschland gilt als reiche Industrienation mit einem starken Sozialstaat. Und dennoch ist hierzulande jeder vierte junge Erwachsene zwischen 18 und 24 Jahren von Armut betroffen oder gefährdet. Bei den unter 18-Jährigen ist es jedes fünfte Kind, so das Ergebnis des Monitors “Jugendarmut in Deutschland”. Seit 2010 wertet die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) regelmäßig Daten zu dem Thema aus.
Diese Zahlen sind für Experten nicht neu und auch keinesfalls überraschend. “Die Armutsgefährdungsquote für Jugendliche ist seit vielen Jahren stabil, leider”, sagt Projektleiterin Silke Starke-Uekermann. Doch vielen Menschen in Deutschland ist das nicht bewusst, denn häufiger ist in den Medien von Altersarmut die Rede. Und ein gängiges Vorurteil lautet, dass vor allem viele junge Erwachsene statistisch als arm gelten, weil sie sich in der Ausbildung oder im Studium befinden und daher noch kaum über eigenes Geld verfügen. “Dieses Argument halte ich für völligen Blödsinn”, sagt Starke-Uekermann. “Man sollte jeden Menschen einzeln betrachten, unabhängig von seinem Elternhaus. STERN PAID 48_24 Armutsbeauftragter 20.27
Dabei fällt auf, wie viele junge Erwachsene in prekären Verhältnissen leben müssen und schon jetzt abgehängt sind. So reicht beispielsweise, trotz Erhöhung, der aktuelle Bafög-Höchstsatz von 992 Euro für Studierende zum Leben hinten und vorn nicht. Vor allem, wenn man die Mietpreise sieht.” Sorge bereitet der Sozialpädagogin die Vorstellung, dass sich die Situation inzwischen weiter verschärft haben könnte. “Weil Statistiken ja nie ein Abbild der Ist-Situation liefern, sondern aus den letzten beiden Jahren stammen, weil die Auswertung und Veröffentlichung Zeit erfordern. Wie schlimm muss daher die Situation daher aktuell sein?”
Ausziehen? Selbstständig leben? Unbezahlbar!
Für die betroffenen Jugendlichen bedeutet Armut beispielsweise, dass sie sich im Gegensatz zu begüterten Gleichaltrigen nur sehr schwer vom Elternhaus lösen und selbstständig werden können. Viele wichtige Erfahrungen können sie nicht machen: Ein Führerschein kostet inzwischen rund 3.000 Euro und ist damit für viele unbezahlbar. Ebenso wie Reisen unternehmen oder ausziehen. Wer sollte die Bürgschaft für die erste Wohnung übernehmen oder die Kaution zahlen? Wie sollen die ersten Möbel, Geschirr oder Töpfe finanziert werden? Auch haben Betroffene nicht die Möglichkeiten und finanziellen Reserven, um im Ausland ihre Sprachkenntnisse zu verbessern oder ein längeres Praktikum zu machen, das später im Lebenslauf Pluspunkte bei der Bewerbung für einen lukrativen Job bringt.
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Vor allem die steigenden Mieten und Wohnkosten werden für Heranwachsende zur enormen Belastung, so ein Ergebnis des “Jugendarmut-Monitors”. Bereits 2023 galt jeder zweite Azubi als überlastet durch Wohnkosten, von den Studierenden müssen zwei von drei mehr als 40 Prozent ihres Einkommens für Wohnen ausgeben. Und von den 439.500 Personen, die 2024 wegen Wohnungslosigkeit in Einrichtungen leben mussten, waren 40 Prozent unter 25 Jahre alt. “Ich beschäftige mich schon lange mit dem Thema Jugendarmut, aber dass der Anteil wohnungsloser junger Menschen derart zugenommen hat, erschreckt mich”, so Projektleiterin Starke-Uekermann. “Viele Jugendliche berichten uns von der Sogwirkung: ohne Wohnung, keine Arbeit – ohne Arbeit, keine Wohnung. Sie sind verzweifelt, weil sie keinen Ausweg mehr sehen.” Deshalb fordert das BAG KJS von der Politik das Recht auf Wohnen ins Grundgesetz aufzunehmen und deutlich mehr in den sozialen Wohnungsbau zu investieren.
Jugendarmut bremst aus
Armut bremst Jugendliche buchstäblich aus, sie können an vielen Dingen nicht teilnehmen, wie sie in ihrer Mobilität häufig eingeschränkt sind. 174 Euro geben 18- bis 24-Jährige im Durchschnitt im Monat für Verkehr aus. Aber im Regelbedarfssatz sind beim Bürgergeld dafür lediglich maximal 50,49 Euro vorgesehen. Das beinhaltet Fahrkarten für den öffentlichen Nahverkehr, Ausgaben für Fahrräder und deren Reparatur sowie Taxifahrten. Das bedeutet, dass ärmere Haushalte anteilig viel mehr für Mobilität ausgeben als sozial privilegierte – oder sich deutlich einschränken müssen. Auch die Einführung des Deutschlandtickets für 49 Euro hat daran nichts geändert, vor allem da der Preis inzwischen auf 58 Euro gestiegen ist. Zu teuer für Jugendliche aus armen Familien. Die meisten armen Menschen bewegen sich zu Fuß oder fahren mit dem Fahrrad. Aber auch neues Rad ist nicht billig, sondern kostet inzwischen rund 470 Euro in der Anschaffung.
Als Lösung schlägt das BAG KJS die Einführung eines bundesweiten Jugendtickets vor, möglichst kostenfrei oder wenigstens stark vergünstigt. So wie in Hessen, dort können Empfänger von Sozialleistungen d für 31 Euro mit dem “Hessen-Mobil-Pass” unterwegs sein. Außerdem sollten die Mobilitätsangebote auf dem Land ausgebaut werden, zum Beispiel durch Rufbusse oder spezielle Jugendtaxis.
Kindergrundsicherung Kommentar 09.28
67 Prozent der Jugendlichen sorgten sich laut Shell Jugendstudie 2024, mit ihrer Familie in Armut leben zu müssen. Dieser Anteil ist seit 2019 stark gestiegen, damals machten sich 52 Prozent solche Gedanken. Doch bisher findet man zu dem Thema in den Wahlprogrammen der Parteien wenig konkrete Lösungsansätze, die der jungen Generation Zuversicht geben könnte. “Die Ampel-Regierung hat mit der gescheiterten Kindergrundsicherung verpasst, die Armutsbekämpfung einen Meilenstein zu erreichen”, sagt Projektleiterin Starke-Uekermann. “Wir möchten mit der Veröffentlichung der Daten zur Jugendarmut vor der Bundestagswahl eine inhaltliche Debatte anstoßen.”
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Author : Catrin Boldebuck
Publish date : 2025-01-16 05:31:00
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