Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hat der SPD im Wahlkampfendspurt ein unverhofftes Geschenk gemacht. Doch der neue Kampfgeist der Genossen birgt auch ein großes Risiko.
Lars Klingbeil kommt aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr heraus, als er den Worten von Friedrich Merz im Plenum lauscht. Wie der Kanzlerkandidat der Union angeblich bedauert, was da gerade passiert ist, er auch noch die Chuzpe aufbringt, die SPD nach dem “Tabubruch” zur Kooperation aufzurufen.
“Sie glauben doch nicht”, ruft SPD-Chef Klingbeil laut Plenarprotokoll dazwischen, “dass wir nach der Geschichte mit Ihnen jetzt noch zusammenarbeiten!”
Die Fraktion von CDU und CSU hatte kurz zuvor einen schneidigen Antrag zur Asylpolitik auch mit Stimmen der AfD durchs Parlament gebracht. Ein Novum. Zum hellen Entsetzen der Sozialdemokraten, allen voran ihres Parteivorsitzenden. Auch einige Tage danach schüttelt Klingbeil noch den Kopf, metaphorisch gesprochen. Aber wenn nicht alles täuscht, dann weniger energisch.
Esken Merz 9.15
Am Sonntag wird der SPD-Chef in einem Fernsehinterview mit seinem Zwischenruf im Plenum konfrontiert. Ob eine Zusammenarbeit mit der Union denn nach der Wahl wieder möglich sei, will der Moderator bei “Berlin direkt” im ZDF wissen. Klingbeil weicht zunächst aus, antwortet auf Nachfrage schließlich: “Ich kann Ihnen nur sagen, der Graben zu Friedrich Merz ist größer geworden.”
Dieser Graben könnte für die SPD noch zu einem Problem werden. Für die Sozialdemokraten ist die Situation nach dem “Tabubruch” vertrackt. Einerseits hat Merz ihnen ein unverhofftes Geschenk im Wahlkampfendspurt gemacht und neuen Kampfgeist bei den strauchelnden Genossen geweckt. Mit allen Geschützen versuchen sie nun gegen ein schwarz-blaues Schreckgespenst zu mobilisieren. Andererseits könnte die Union nach dem 23. Februar die einzige Machtoption der SPD sein, sollte sich die geballte Empörung über das Merz-Manöver nicht in den Umfragen niederschlagen und die eigenen Werte (15 bis 17 Prozent) weiter stagnieren.
Auch vor diesem Hintergrund dürfte Parteichef Klingbeil, dem bei einer Regierungsbildung wohl eine Schlüsselrolle zukommen würde, einen kleinen Schritt auf Friedrich Merz zugemacht haben: Ein Graben lässt sich in der Regel überwinden. Doch was, wenn dieser Graben bis zum 23. Februar immer größer wird, weil ihn die Sozialdemokraten selbst immer größer schaufeln – bis er kaum noch zu überbrücken ist?
Ab durch die Mitte
Das Bollwerk gegen den Faschismus zu sein, empfinden viele Sozialdemokraten als sinnstiftend. Es gehört zur DNA der Partei. Außerdem ist Wahlkampf, den die SPD aktuell zu verlieren droht. Wenn also Attacke, dann jetzt.
Die SPD-Kampagne verbreitet nun Slogans wie “Mitte statt Merz”, hat sich sogar die entsprechende Internet-Adresse gesichert, und rahmt die SPD zur parteigewordenen Brandmauer: “Schwarz-blaue Mehrheit verhindern”. Entsprechende Plakate waren auch auf einer Demonstration am Sonntag in Berlin zu sehen, bei der mindestens 160.000 Menschen gegen eine Zusammenarbeit von CDU und AfD auf die Straße gingen, darunter auch die SPD-Vorsitzenden Klingbeil und Saskia Esken. Merz Recap 08.20
Die SPD setzt auf das Misstrauen gegenüber Friedrich Merz, befeuert es mit ihren Slogans selbst. Die Botschaft ist klar: Die Kanzlerpartei stehe stabil gegen die extremen Rechten – Subtext: im Gegensatz zur Union – und versündige sich nicht an demokratischen Gepflogenheiten. Merz sei nicht mehr zu trauen, findet Kanzler Olaf Scholz und warnt, dass es nun schwarz-blaue Mehrheiten zu verhindern gelte.
Jedoch ist die Versuchsanordnung riskant. Übersteuert die SPD im Ton, könnte das im Zweifel an ihrer eigenen Glaubwürdigkeit kratzen: Wenn die Wähler Merz angeblich nicht trauen können – warum sollte es dann plötzlich die SPD können?
SPD und Union unter Friedrich Merz: Geht das noch zusammen?
Ausweislich der aktuellen Umfragelage spricht vieles für eine Neuauflage der Großen Koalition, also eine schwarz-rote Regierung. Die GroKo wird sogar als das wünschenswerteste Koalitionsmodell angesehen, weil es nach den aufreibenden Ampel-Jahren offenbar in vielen Köpfen als Stabilitätsfaktor romantisiert wird.
Sollte Schwarz-Rot tatsächlich die einzig realistische Option nach der Wahl sein, könnte das die SPD enorm unter Druck setzen, sagen Genossen hinter vorgehaltener Hand. Auch von einem Dilemma ist die Rede. Die Schnittmengen zur Union würden zusehends geringer, vielen fehlt nach dem “Tabubruch” die Fantasie, im Zweifel den CDU-Chef zum Kanzler zu wählen.
Friedrich Merz, ein Hindernis für eine Koalition? Als erster SPD-Ministerpräsident hat Alexander Schweitzer, der Regierungschef in Rheinland-Pfalz, diese Frage in die Debatte eingespeist. Mit seiner Öffnung zur AfD habe es Merz seiner Partei extrem erschwert, nach der Bundestagswahl Partner zu finden, sagte Schweitzer dem “Redaktionsnetzwerk Deutschland”. Der CDU-Chef habe sein Wort gebrochen. Es sei daher fraglich, ob es eine Regierung mit ihm geben könne.
Das ist keine Absage an eine mögliche Koalition mit der Union, aber der subtile Hinweis: Ein gemeinsames Bündnis hätte seinen Preis – vor allem im Fall einer SPD-Wahlniederlage.
Streit in der FDP interne Chats 15.30
Schon in der Vergangenheit konnte die SPD als Juniorpartnerin der Union weitreichende Zugeständnisse abtrotzen, etwa 2017/2018, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf eine Große Koalition gedrängt hatte, nachdem die Jamaika-Verhandlungen geplatzt waren. Sollten die Sozialdemokraten tatsächlich Friedrich Merz‘ letzte Chance sein, Kanzler zu werden, dürfte das den Preis für eine Partnerschaft erheblich steigern.
Die SPD spielt auf Sieg, der Graben zur Union dürfte auf absehbare Zeit daher nicht kleiner werden. Droht den Genossen nach dem 23. Februar möglicherweise eine Zerreißprobe?
Auf die Parteiführung könnte jedenfalls ein kommunikativer Spagat zukommen. Wie könnte die Brücke zu einer möglichen Zusammenarbeit mit der Union aussehen? Wie bekäme man das vermittelt, auch und vor allem in den eigenen Reihen, die man gerade gegen die “Merz-CDU” und das schwarz-blaue Schreckgespenst mobilisiert? Wie könnte die SPD-Basis von einem Bündnis mit dem verteufelten Hauptgegner überzeugt werden?
So oder so dürfte der Weg in eine GroKo mit sehr harten Verhandlungen verbunden sein. Dabei könnte die Sozialdemokraten aber auch ein Szenario am Tisch halten, das Kanzler Scholz in praktisch jeder seiner Reden mahnend erwähnt: In Österreich scheiterten Koalitionsgespräche zwischen Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen. Nun verhandeln die Konservativen mit den Rechtspopulisten über eine gemeinsame Regierung.
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Author : Florian Schillat
Publish date : 2025-02-04 12:18:00
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